aus: Karinas Engel 

von Anka Himmelreich

 

Was es alles gibt, wissen wir nicht.

Aber manchmal fühlen wir alles.

 

 

„Ruhe!“ brüllte Karina so laut es ihre noch schlafenden Stimmbänder zuließen. Anni sang ungerührt weiter. Karina rannte mit den Händen auf den Ohren in das Badezimmer und stellte sich unter das rauschende Wasser der Dusche, das die Piepstöne aus dem Kinderzimmer einigermaßen übertönte.

Anni riss plötzlich die Tür auf, was sie eigentlich sonst nicht tat. „Duscht dein Engel jetzt auch? Warum ist der denn da rein gegangen?“ Sie schob den Duschvorhang zur Seite. „Oooooh… der duscht ja wirklich!“ Kichernd schloss sie die Tür wieder. Karina blieb erschüttert zurück. Trotz warmen Wassers begann sie leicht zu zittern. Schnell drehte sie den Hahn zu, trocknete sich hektisch ab und wickelte sich ihr großes Handtuch um den Körper. Als sie ins Zimmer trat, sah sie Anni glücklich an ihrem Schreibtisch malen. „Hör mal, Annilein, wieso glaubst du eigentlich, dass der Engel mir gehört?“ „Dir? Wieso dir? Kann man Engel so haben…? So wie ein Spielzeug...? Also kann man mit denen machen, was man will?“ „Nee, das glaub ich jetzt nicht, ich meine nur, warum du immer DEIN Engel sagst…?“ Anni drehte sich nun zu ihr um, sichtlich interessiert am Gespräch. „Tja, Kari, frag ihn doch mal, warum er dich auf Schritt und Tritt verfolgt.“ „Ja, warum tut er das?“ Karina bemerkte, dass sie bereits selbst über Engel sprach, als weilten sie selbst-verständlich bei ihnen. Sie schüttelte den Irrsinn mit den Tropfen ihrer Haare durch das Zimmer und von sich weg. „Ha!“ rief Anni, „willst du seine Antwort hören?” Karina erstarrte zu einer Mumie und ließ infolgedessen ihr Handtuch los, das rasch zu Boden segelte. Anni kreischte vor Vergnügen und lief auf sie los, um sie auf den Po zu klatschen, aber Karina ergriff geschickt die Hände ihrer kleinen Schwester und wirbelte sie im Kreis, nackt wie sie war. Sie lachten beide aus vollem Hals und fielen schließlich mit Krach in ein Lego-Puppenhaus. Die Mutter schaute neugierig durch den Türspalt, sagte aber nichts und verschwand wieder, die Kinder hatten es gar nicht bemerkt.

Karina riss sich aus den kämpferischen Umklam-merungen Annis los und zog sich schnell an. „So. Und jetzt berichtest du mir bitte, was der Geist zu dir gesagt hat!“ „Der ENGEL! Und er hat mit DIR geredet! Aber er hat mir ’nen klaren Blick zugeworfen, dass ich’s dir verraten darf…“. „Nun mach schon, erzähl!“ „Na ja… er sagte…“, Anni ließ absichtlich die Spannung steigen, um zu genießen, wie konzentriert Karinas Blick auf ihr ruhte, doch Karina kapierte. „Los du Hexe!“ rief sie und schüttelte Anni zärtlich durch. Anni gab den Widerstand schließlich auf. „Er meint, du hättest eine besondere Aufgabe vor dir, bei der er dich unterstützen will.“ „Eine Aufgabe? Wie jetzt? Schule? Katze füttern? Müll raus bringen?“ „Keine Ahnung, Kari, frag ihn doch!“ Karina schüttelte verwundert den Kopf. Man kann den Engel einfach so ausfragen? Seltsam. Von solchen Engeln hat sie wirklich noch nie gehört. Sie riss sich zusammen, die Neugier siegte. Sie nahm sich ihren eigenen Schreibtischstuhl und setzte sich gegenüber von Anni, den Stuhl verkehrt herum und die Arme auf der Lehne verschränkt. „Ok“, begann sie, „wie sieht meine große zukünftige Aufgabe aus?“ Anni schien hinter sie zu schauen und sprach plötzlich los. „Du wirst den Menschen zeigen... dass sie nicht allein sind... dass sie nichts zu fürchten brauchen... dass sie alle immer leben werden... dass sie alle am Ende glücklich werden…“. Karina und Anni starrten sich daraufhin eine ganze Ewigkeit sprachlos in die Augen.

„Wir frühstücken!“ ertönte die Stimme ihrer Mutter wie aus einem fernen Land. Anni und Karina blieben sitzen.

 

 

Karina schrak plötzlich hoch, als ein Lichtstrahl durch das Fenster ihre Augen traf. Gerade jetzt taucht die Sonne auf…, dachte sie. Als ob das Licht ihr die Kraft gegeben hatte, wieder in die „normale“ Welt des Essens, der Eltern und der Schule zurückzukehren, stand sie erfrischt auf und schritt zur Tür. Anni schaute ihr von ihrem Stuhl aus nachdenklich zu, wie sie munter aus der Tür schritt und schlich ihr dann unbemerkt hinterher. Als sie am Treppenanfang hinter ihr stand, sagte sie in tiefer Gröhlstimme: „Denk an Deine Aufgabe!“ Karina wirbelte kreischend herum und um ein Haar kippte sie die Treppe hinunter. Anni kicherte, lief zum Bad und knallte die Tür zu. Bevor Karina sie erreichen konnte, hatte Anni bereits den Schlüssel herum gedreht. „Du alte Hexe“ schrie Karina lauthals und hämmerte gegen die Tür.

„Was ist denn heute mit euch los?“ fragte die langsam herauf schlurfende Mutter. „So kenne ich euch gar nicht. Sonst seid ihr morgens viel zu müde für so ein Toben, besonders du, Karina!“

„Anni ärgert mich die ganze Zeit, Mama! Ich kann da gar nichts für…“

„Nee, gar nicht wahr“, tönte es aus dem Badezimmer, „Kari hat Angst vor Engeln!“

„Hexe, du! Habe ich gar nicht!“

Die Mutter schaute Karina lange und besorgt ins Gesicht. Karina wand sich unter ihrem Blick. „Engel?“, forschte ihre Mutter.

„Das ist doch alles Quatsch“, erwiderte Karina, „alles Fantasie von Anni…-“

„Du glaubst nicht, dass es sie gibt?“ Ihre Mutter bohrte weiter.

„Nein, natürlich nicht. Was man nicht sieht, gibt es doch nicht, oder?“

„Hmmm. Was man hört und riecht, gibt es doch, auch ohne, dass man es sieht. He?“

„Ja schon. Aber ich habe weder Engel gesehen, gehört, noch gerochen und ich weiß nicht, was es sonst noch gibt, wie man sie erkennen könnte, aber ich habe keinen bemerkt.“

„Ja, du nicht, aber vielleicht andere?“

„Weiß ichs? Kann mir doch egal sein. Was nützt es mir, was andere sehen. Hat doch nichts mit meinem Leben zu tun!“ Karina schritt die Treppe hinunter. Ihre Mutter schaute ihr mit einem zufriedenem Lächeln nach.

 

„Ja, zum Teufel, was macht ihr denn heute morgen da oben, selbst die Kaffeekanne hatte gewackelt!“

„Ach, Papa, wir quatschen über Engel und so…-“

„Das müssen ja ganz wilde Zeitgenossen sein, dass sie euch so in Aufruhr bringen“, lachte ihr Vater amüsiert.

„Nee, Papa, gar nicht, sie sind ja gar nicht da, obwohl Anni die ganze Zeit einen um mich herum sieht. Behauptet sie.“

„Ja, ja, die Kleinen, wenn sie keinen zum Spielen haben, erfinden sie sich eben einen. Eigentlich eine schlaue Idee.“

Karina schaute ihren Papa an, wie er in der einen Hand seine Kaffeetasse hielt und in der anderen seine Zeitung, wie ungerührt, ja versteinert er wieder nach seinem kurzen Lachen weiterlas. Ob seine Zeitung und sein Kaffee auch so etwas wie ausgedachte Freunde für ihn waren? Da würde sie sich aber lieber einen Engel als Freund ausdenken. Oder glaubte ihr Vater gar, dass der Kaffee und die Zeitung wirklich Freunde waren? Sie schüttelte ihre Haare und ihren Kopf hin und her, das machte sie immer, wenn sie Gedanken abschüttelte, mit denen sie nicht weiter kam.

„Kari, meine Liebe…“, ihre Mutter hatte endlich Anni zum Frühstücken überredet, „vergiss die Blumen nicht, wenn Du nach Hause kommst!“

„Klar, Mama!“ Karina kümmerte sich immer mit um den Garten und sie liebte es mit dem Schlauch durch die Büsche zu düsen und selbst durch die hohen tropfenbehangenen Gräser ganz nass zu werden.

 

Die Schule fand Karina heute so langweilig, dass sie überhaupt nicht merkte, dass die Zeit schon um war, sie hatte nur an Engel mit großen Flügeln, hell strahlend wie die Sonne gedacht.

„Karina, kommst Du?“ Ungeduldig stand die Lehrerin in der Tür, Karina saß noch immer an ihrem Pult und starrte zum Fenster hinaus, als ob noch immer Unterricht sei. Ganz erschrocken, wie aus einem schönen Traum erwacht, riss sie ihre Schultasche an sich, schmiss Heft und Mäppchen hinein und rannte ohne einen Blick auf die Lehrerin durch die Tür.